Künstliche Muskeln und Nerven aus der Formgedächtnislegierung Nickel-Titan machen Roboterrüssel wendig und beweglich wie ihr tierisches Vorbild. Sie sind aber wesentlich leichter, unermüdlicher und präzise steuerbar.
Industrieroboter haben ebenso viel Kraft, Geschwindigkeit und Präzision wie Gewicht und Gefährlichkeit. Menschen, die mit ihnen arbeiten, müssen vorsichtig sein, da ein Zusammenstoß schnell schmerzhafte Folgen haben kann. Damit sie Seite an Seite und Hand in Hand mit Menschen arbeiten können, müssen Roboter sanfter sein. Zusammen mit Festo entwickelt ein Forschungsteam am Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme an der Universität des Saarlandes (UdS), entwickelt einen Roboterarm, der ganz ohne schwere Metallkonstruktion auskommt.
Vorbild Elefantenrüssel macht Roboter biegsam und sanft
Die Saarbrücker Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler orientieren sich dabei am Vorbild der Natur: dem Elefantenrüssel: “Dieses Erfolgsmodell hatte Jahrmillionen Zeit, auszureifen, und sich in der Praxis zu bewähren”, erklärt Stefan Seelecke. Der schlanke Roboterrüssel, den sie entwickeln, kann schwingend pendeln und schlenkern und sich in alle Richtungen biegen. Im Gegensatz zu den heutigen schweren, metallischen Roboterarmen ist er nicht an sperrige Gelenke gebunden, die nur bestimmte Bewegungen zulassen. Wie sein tierisches Vorbild kommt der Roboterrüssel ohne “Knochen”, also ohne starres Metallgerüst aus. Er ist allein durch das geschickte Zusammenspiel seiner künstlichen Muskeln wendig.
„Unsere intelligenten Materialsysteme machen biegsame und weiche Roboterwerkzeuge möglich, die erheblich leichter und flexibler sind als heutige technische Bauteile. Sie brauchen keine Motoren, Hydraulik oder Druckluft, sondern funktionieren mit vergleichsweise wenig elektrischem Strom. Das macht diese Robotertechnologie im Betrieb nachhaltig, kostengünstig und auch leise“, erläutert Seelecke. Sein Forschungsteam arbeitet an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik Zema an verschiedenen Arten von künstlichen Muskeln für intelligente Roboterrüssel und ‑tentakel. Die Ingenieure verwenden sowohl intelligente Kunststoffe als auch Formgedächtnislegierungen. Auf der Hannover Messe präsentiert das Team seinen neuen Prototypen mit Formgedächtnis: Der etwa 30 Zentimeter lange Rüssel demonstriert sein Können mit Muskeln und Nerven aus Nickel-Titan-Drahtbündeln. “Die Technologie ist skalierbar, sie funktioniert auch für große Industrieroboter”, sagt Seelecke.
Nickel-Titan-Drähte verhalten sich wie Muskeln
Künstliche Muskeln aus Nickel-Titan-Drähten können wie Muskeln von Lebewesen kontrahieren: Sie verkürzen sich auf Befehl und dehnen sich wieder aus, entspannen sich also. Diese außergewöhnliche Fähigkeit von Nickel-Titan beruht auf dem Phänomen des Formgedächtnisses dieser Legierung: Sie erinnert sich an ihre ursprüngliche Form. Wenn ein solcher Draht erwärmt wird, zum Beispiel durch Stromfluss, verkürzt er sich. Wird der Strom abgeschaltet, kühlt der Draht ab und wird wieder lang. Der Grund dafür liegt im Kristallgefüge der Legierung: “Durch Erwärmen kommt es hier zu Festkörperphasenumwandlungen”, erklärt Professor Paul Motzki, der zusammen mit Stefan Seelecke forscht. Im Gegensatz zu Wasser, das bei Erwärmung gasförmig wird, bleibt Nickel-Titan fest, aber sein fester Zustand, also seine Kristallstruktur, wandelt sich um.
Die Forscherinnen und Forscher setzen den Rüssel aus vielen der künstlichen Muskelstränge zusammen. Ähnlich wie echte Muskelfasern, die in Bündeln zusammengefasst sind, bündeln sie dafür auch die haarfeinen Drähte. Die Drahtbündel geben durch ihre größere Oberfläche mehr Wärme ab, was die Kontraktionen schneller macht. Und sie sind auch sehr stark: “Die Drähte haben die höchste Energiedichte aller bekannten Antriebsmechanismen und entwickeln hohe Zugkraft. Das macht es uns auf kleinstem Raum möglich, starke Antriebstechniken unterzubringen, was sonst unmöglich wäre”, erklärt Paul Motzki. Indem sie mehrere dieser Drahtbündel in bestimmten Abständen durch eine Reihe runder, dünner Kunststoffscheiben fädeln, halten die Drahtbündel Abstände ein, und es entsteht ein Rüsselsegment. Die Forscher setzen mehrere dieser Segmente zusammen, deren Scheiben zum Ende des Rüssels hin kleiner werden.
Durch elektrische Impulse lassen sich die Muskeln im Rüssel aktivieren. Wenn die Forscher die künstlichen Muskelstränge auf einer Seite in einem Muskelsegment verkürzen, biegt sich der Rüssel an dieser Stelle im gewünschten Winkel nach außen. Das Zusammenspiel der Drahtbündel erzeugt dabei fließende Bewegungsabläufe, ähnlich einer Beuge- und Streck-Muskulatur. Ohne zusätzliche Sensoren können die Forscher den Rüssel hochpräzise und schnell steuern, so dass er beliebige Bewegungen vollführt. Die künstlichen Muskeln dienen dabei auch als Nerven des Systems — die Drähte selbst haben Sensoreigenschaften. “Jede Verformung der Drähte bewirkt eine Änderung des elektrischen Widerstands und lässt sich präzisen Messwerten zuordnen. Anhand der Messwerte wissen wir genau, in welcher Position welches der Drahtbündel gerade verformt ist, und können so auch sensorische Daten ablesen”, erklärt Yannik Goergen aus dem Forschungsteam. Die Ingenieure modellieren und programmieren Bewegungsabläufe mit diesen Daten, entwickeln intelligente Algorithmen und trainieren damit den bionischen Rüssel. Die Spitze des Rüssels kann mit zusätzlichen Funktionen wie einem Greifer oder einem Kamerasystem ausgestattet werden. Der Rüssel könnte auch einen Schlauch tragen, um präzise Flüssigkeiten abzugeben oder abzupumpen.